Einbruch, Umbruch oder Aufbruch?

„Hast Du schon gesehen? Normalbenzin bloß noch 1,20 der Liter!“ – „Ja, wegen der Rezession.“ – „Das ist Rezession?! Dann stehen uns goldene Zeiten bevor.“

Die Gefühle angesichts der Rezession sind gemischt. Bunt gemischt ist auch die vielfach veröffentlichte Meinung angesichts einer Finanzkrise unbekannten Ausmaßes, die eine so gewaltige wie nebulöse Wirtschaftskrise im Schlepptau hat. Aber wenn dabei das Benzin billiger wird, bin ich von der Partie. Oder nicht?

Interessant erscheinen mir drei Fragen: Die Rolle der so genannten Eliten, die Frage des Vertrauens und die nach den Befangenheiten, in denen sich Menschen im Allgemeinen befinden – einschließlich der eigenen Person.

Was sagen unsere Eliten angesichts der dramatischen Pleitewelle? „Der Einzelne muss nachträglich einsehen, dass die Vernünftigkeit seiner wichtigsten Lebensentscheidungen auf einem rein spekulativen System basierte“, ist zu lesen, des Weiteren, dass „das große Zweifeln an der Gesellschaft und an der Tragfähigkeit ihrer bisherigen Vernunft begonnen haben.“ Das könnte man fast im „Neuen Deutschland“ vermuten, aber es stand in der FAZ, dem Flaggschiff des staatstragenden Kapitalismus. Der es schrieb, war Frank Schirrmacher, einer ihrer Herausgeber. Für ihn und seine meinungsbildenden Mitstreiter ist eine Welt ins Wanken geraten, an die sie fest glaubten. Gestern noch haben FAZ oder die „Bertelsmänner“ landesweit Plakate an jede Straßenecke geklebt. „Du bist Deutschland“, war darauf zu lesen, um jeden an seine eigene und stolze Verantwortung in der Gesellschaft zu mahnen. Geht es dir aber schlecht, bist du selbst schuld, lautete der zweite, darin versteckte Teil der Botschaft. In einer auf Freiheit und Marktwirtschaft ruhenden Gesellschaft ist jeder seines Glückes Schmied. Wer aber stellt den Amboss und den Hammer her?

Im Moment sind die lautstarken Verfechter des neoliberalen Systems betroffen. Still oder auch öffentlich, wie Herr Schirrmacher, geben sie ihre Irrtümer und ihren Abfall vom Glauben zu. Das ehrt sie und das ist fraglos eine Stärke dieser Gesellschaftsform. Man stelle sich vor, dass Günter Mittag auf dem 10. Parteitag der SED im Jahre 1981 öffentlich gesagt hätte: „Liebe Genossen, liebe Mitbürger, mich befallen immer stärkere Zweifel an der Tragfähigkeit der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik.“ Dieser Satz wäre ein Fanal gewesen und hätte das Kartenhaus DDR 8 Jahre früher zum Einsturz gebracht. Schön wäre das gewesen. Ob Frank Schirrmachers Äußerungen und die Glaubenskrisen seiner elitären Mitmenschen angesichts ihrer Ansehensverluste (und ihrer eigenen finanziellen Verluste?) ein Fanal darstellen, bezweifle ich. Edzard Reuter, früherer Chef von Daimler, äußerte unlängst seine Überzeugung, dass genau die gleichen Personen, die das tönerne System aktiv aufgebaut hätten, bereits sehr emsig daran gingen, es mit geringen Abstrichen neu zu etablieren. Daran zweifle ich keine Sekunde.

Neben einer Finanz- und Wirtschaftskrise erleben wir zweitens eine Vertrauenskrise. Es sind ja nicht nur Kredite und Aktien, denen das Vertrauen abhanden gekommen ist. Geld, so lernt jeder Volkswirtschaftler, hat nur dann seinen Wert, wenn alle daran glauben, dass alle es akzeptieren. Im Moment ist dieser Glaube brüchig. Aber man muss kein Volkswirtschaftler sein, um die tieferen Prinzipien von Gewinn und Verlusten in ihren schlimmsten Auswüchsen zu begreifen. Es reicht ein Blick in die Kultur der guten Witze: 1923 besucht Rubinstein seinen alten Schulfreund Goldmann in Berlin. Goldmann ist ein erfahrener Börsianer und nimmt Rubinstein am nächsten Tag zum ersten Mal mit auf das Börsenparkett. Rubinstein staunt Bauklötzer angesichts der Hektik, des Geschreis, des wilden Gestikulierens erregter Männer. Plötzlich jedoch rumort es bedrohlich in Rubinsteins Magen. Ein drängendes Geschäft kündigt sich an. „Wo ist hier die Toilette?“, wendet er sich mit zusammengekniffenen Lippen an seinen Freund Goldmann. Der tut verwundert: „Toilette? Toilette gibt es hier nicht. Hier bescheißt einer den anderen!“

Selbstverständlich überzeichnet der Witz. Aber wenn große Finanzmagnaten seit Jahren und jetzt sogar geballt zugeben, sie verstünden ihre eigenen Produkte nicht, dann verstummt dem Schalk jeder Witz. Die Banker haben wie weiland die Einwohner von Schilda das Licht in Eimern ins Haus getragen, weil sie vergessen hatten, Fenster einzubauen. Warum soll ich nun den Schildbürgern von heute mein Vertrauen schenken? Wer soll den Wirtschaftskräften nebst den eilfertigen und diensteifrigen Politikern fast aller Parteien, die den Finanzmogulen in die diamantbesetzten Sättel geholfen haben, vertrauen? Der sich ausbreitende Vertrauensverlust in das System und seine Protagonisten wiegt schwerer als die bezifferbaren Verluste. Denn damit einher geht eine Vertrauenskrise in die gegenwärtige Form der Demokratie und eine ihrer wichtigsten Eigenschaften – der Transparenz. Undurchsichtigkeit ist keine demokratische Tugend.

Drittens und letztens ist auf das Phänomen der Systemblindheit einzugehen. Die meisten Menschen sind Gefangene ihrer Gewohnheiten. Im historischen Rückblick erscheinen die Verbohrtheiten, Unfähigkeiten oder Grausamkeiten der Herrscher und die mehr oder weniger angepassten Reaktionen der Beherrschten folgerichtig. Der bauwütige und jagdbesessene Herzog Ernst August I. von Sachsen-Weimar war unfähig und blind genug, in seiner Regierungszeit (1728-1748) sein Herzogtum zu ruinieren. Auch die DDR-Wirtschaftspolitik war eine Farce, wie schon zu deren Lebzeiten erkennbar war. Was taugt ein System, in dem ich, um einen bestimmten Topf Farbe zu erhalten, erst ein Techtelmechtel mit der Verkäuferin beginnen muss?

Fragen nach dem wahren Ausmaß destruktiver und lebensfeindlicher Strukturen in der Gesellschaft wären auch jetzt angebracht, mehr noch aber Lösungen. Schwerwiegende Fragen zu stellen ist in der heutigen Zeit das geringste Problem. Wer aber die besseren Antworten geben will, der muss erst einmal zurücktreten und innehalten, muss auch und vor allem sich selbst in Frage stellen. Das ist kein alleiniges Problem der Eliten! Wer will den wirklich wissen, warum ein T-Shirt nur 5,00 € kostet und welche Krankheiten die Bananenpflückerinnen in Costa Rica haben? Oder wer denkt tiefer nach, weshalb ein Flug nach London nur 50,00 € kostet und ob einen die Enkel deswegen nicht bissige Worte in den Grabstein meißeln?

Ungläubig reibt man sich die Augen, wenn die Regierungen den Banken 2, 3, 4 oder 5 Billionen Dollar zur Verfügung stellen. Weniger ungläubig ist man, wenn zu erfahren ist, dass es nach wie vor keine Bereitschaft gibt, 1 Milliarde Dollar für die 900 Millionen Hungernden der Welt aufzutreiben. Diese doppelte Fäulnis – Systemfäulnis und Denkfaulheit – halte ich mir ab und zu vor Augen. Wer Billionen für den Erhalt des bestehenden Ungleichgewichts ausgibt, arbeitet dem sozialen Frieden im globalen Dorf entgegen. Was faul ist, ist auch faul zu nennen. Blindheit gegenüber dem eigenen wahren Selbst und gegenüber dem System führt unweigerlich zum nächsten Aufschlag an der Mauer. Auch diese Mauer muss weg. Proteste sind laut und vernehmlich zu machen. Martin Luther hat uns schöne Beispiele für Mut, Gedankenschärfe und Klarheit hinterlassen. Angesichts der Ablassbriefe, einer Art „fauler Kredite“ seiner Zeit, empörte er sich deutlich: „Das ist doch ja die allergröszte bescheiszerei, die auf erden komen ist.“ An dieser Stelle ist dem Reformator nichts hinzuzufügen.

Hans-Joachim Petzold